
Mit 42,7 Prozent gewann die SPD im Oktober 1969 die Bundestagswahl. Zum ersten Mal nach 1945 stellte sie mit Willy Brandt den Bundeskanzler.
Vor 35 Jahren, am 28. Oktober 1969, gab Willy Brandt als Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition seine Regierungserklärung ab. Fast 40 Jahre waren vergangen, seit der letzte sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller am 27. März 1930 zurückgetreten war. Die Hoffnung der SPD: Nach Hitler wir! – hatten die Wähler nach 1945 nicht erfüllt. Lang und mühsam war der Weg der SPD zu diesem 28. Oktober 1969. Vielen Kommentatoren schien das Wort Machtwechsel zur Kennzeichnung schon zu hoch gegriffen; es habe sich nur um einen schlichten Regierungswechsel gehandelt: Nach geduldiger Wartezeit sei eben auch die SPD einmal dran gewesen.
Doch historisch markiert der 28. Oktober 1969 weit mehr als nur einen Machtwechsel in der Politik. Er ist Ausdruck für einen tief greifenden Erneuerungs-, Demokratisierungs- und Aufklärungsprozess in Politik, Gesellschaft und Kultur der Bundesrepublik. In der SPD selbst hatten die Wahlniederlagen bei den Bundestagswahlen (1949 = 29,2 Prozent, 1953 = 28,8 Prozent, 1957 = 31,8 Prozent) den selbstkritischen Diskussionsprozess über eine programmatische Erneuerung beschleunigt. Das im November 1959 (fast genau zehn Jahre vor der Regierungserklärung am 28. Oktober 1969) beschlossene Godesberger Programm machte die SPD auf Bundesebene regierungs- und koalitionsfähig. Auch die erfolgreiche Politik der SPD in Kommunen und Ländern, u. a. in Berlin unter Willy Brandt, führten zu einem stetigen Anstieg der SPD-Wählerstimmen: 1961 = 36,2 Prozent, 1965 = 39, 3 Prozent, 1969 = 42,7 Prozent.
Mit der sozialliberalen Koalition begann am 28. Oktober 1969 auch die schärfste Konfrontation zwischen Regierung und Opposition in der Geschichte der Bundesrepublik, bis zu dem Versuch am 27. April 1972, die Regierung mit dem konstruktiven Misstrauensvotum zu stürzen. Damals bestand zwischen allen Parteien ein breiter ,,Sozialstaatskonsens. Hauptstreitpunkte waren nicht die inneren Reformen, um mehr Demokratie zu wagen und den Sozialstaat auszubauen, wie die Herabsetzung des Wahlalters, mehr Mitbestimmung für Betriebs- und Personalräte, Erhöhung der Kriegsopfer- und Kleinrenten, flexible Altersgrenze, Öffnung der Rentenversicherung für Selbstständige, Lohnfortzahlung bei Krankheit auch für Arbeiter, Vermögensbildung für Arbeitnehmer etc.
Zur großen Streitfrage wurde die Deutschland- und Ostpolitik, die erst bei den vorgezogenen Bundestagswahlen am 17. November 1972 endgültig zu Gunsten der sozialliberalen Koalition entschieden wurde. Doch die Wähler bestätigten nicht etwa ein Konzept, das Anfang der sechziger Jahre eine Expertenkommission in langen Nachtsitzungen fertig gestellt und die SPD bis Ende des Jahrzehnts mit Hilfe einer Werbeagentur mehrheitsfähig gemacht hatte. Sie bestätigten vielmehr eine neue Politik, an deren schrittweiser Konzipierung sie selbst in den sechziger Jahren in den gesellschaftlichen und innerparteilichen Diskussionen aktiv mitgewirkt hatten. Dabei wurde gegen stärkste Widerstände das bisher vorherrschende antikommunistische Weltbild revidiert und zwei Mega-Tabus gebrochen: Keine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und keine Anerkennung der DDR.
Aus heutiger Sicht eine leichte Aufgabe, die damals indessen mehr intellektuelle Anstrengungen erforderte, als eine Partei allein zu leisten vermochte. Noch wirksamer als die Außerparlamentarische Opposition war in diesen gesamtgesellschaftlichen Aufklärungsprozessen eine ,,Linksliberale intellektuelle und publizistische Opposition (,,LIPO), die sich seit den fünfziger Jahren in kritischer Solidarität zur SPD entwickelte und die eine Linkswendung im Bewusstsein und auch in der FDP begünstigte.
Nur einige Stichworte zu dieser LIPO: Wissenschaftler und Publizisten kritisierten in Büchern, Aufsätzen und Diskussionen die lähmenden Illusionen und Tabus der antikommunistischen Politik: Peter Bender, Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR (1968), die Denkschriften der Evangelischen Kirche (1962, 1965, 1968). Einflussreiche Medien, u. a. DIE ZEIT, DER SPIEGEL, Frankfurter Rundschau, Fernsehmagazine, wurden zu Sprachrohren für ein neues Denken. In den von Günter Grass initiierten Sozialdemokratischen Wählerinitiativen (1965, 1969, 1972) warben bekannte Intellektuelle und populäre Künstler, gemeinsam mit engagierten Bürgern, für eine neue Politik und für Willy Brandt.
Bei den vorgezogenen Bundestagswahlen im November 1972 erreichte die gesamtgesellschaftliche Politisierung und Mobilisierung (,,Willy wählen!) ihren Höhepunkt: Mit der Rekordwahlbeteiligung von 91,1 Prozent erreichte die SPD ihr bisher bestes Ergebnis: 45,8 Prozent. Adenauer hatte die Bundesrepublik in das politische und militärische Bündnis mit dem Westen geführt. Aber erst mit Willy Brandts Politik der Aussöhnung mit dem Osten hat sich in der Bundesrepublik auch die demokratische politische Kultur der westlichen Gesellschaften durchgesetzt.