
Machen Männer die Geschichte? Aber nein, lehrt(e) der historische Materialismus, und Frauen auch nicht, sondern: Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Machen Männer geflügelte Worte? Aber immer, siehe oben. Manchmal sogar, wenn es gar keine sein sollen: Mir drängt sich mehr und mehr das Gefühl auf, dass die ganze agitatorische Tätigkeit und insbesondere die parlamentarische unter den heutigen Verhältnissen nicht die Kraft und die Zeit lohnt, die man drauf verwendet.
Dies grantelte August Bebel am 2. Mai 1883 an den lieben Engels, der, vom Londoner Smog umnebelt, nicht mehr an der Zeitung Sozialdemokrat mitarbeiten wollte (aus Zeitmangel). Ein geflügelter Stoßseufzer, sozusagen, und stets aktuell. Denn heutige Verhältnisse, die gibt es ja immer, und fast immer nerven sie. Und was die ganze agitatorische Tätigkeit betraf: Darin sollte die parteieigene Presse eine tragende Rolle spielen, doch daran wurde sie von Bismarcks Sozialistengesetz gehindert.
Höhen und Tiefen
Der Vorwärts, 1876 als Central-Organ der Sozialdemokratie Deutschlands begründet, war verboten; statt seiner erschien in Zürich und nachher in London der Sozialdemokrat, unter starkem Einfluss Eduard Bernsteins, den Bebel mitsamt dessen Revisionismus später sonst wohin wünschte. Es fehlt dem Sozialdemokrat leider sehr an tüchtigen Mitarbeitern, klagte der Parteivorsitzende. Auch mit dem 1890/91 wiedererstandenen Vorwärts hatte Bebel seine Last, denn die Redaktion wollte oft nicht so wie er. Manchen Nachfolgern erging es nicht anders.
Konnte es auch nicht. Denn Zeitungen, das immerhin steht fest, werden von Männern – und Frauen – gemacht. Im politischen Journalismus, und solange keine Diktatur Sprachregelungen durchsetzt, sind das sehr lebendige und eigenwillige Menschen. Einerseits kommen sie als Zeitzeugen ihrer – oft selbstironisch belächelten – Chronistenpflicht nach; andererseits nehmen sie selbst aktiv gestaltend am Geschehen teil oder versuchen dies doch gern, meistens mit agitatorischem Ernst und selten ohne eine gewisse Eitelkeit.
Nichts für Zweifler
Das hat den Beruf zu allen Zeiten schwierig und spannend gemacht, und deswegen lohnt sich dieser Rück- und Vorausblick: auf Höhen und Tiefen von 125 Jahren sozialdemokratischer Leitpublizistik. Nicht alles ist seit den Gründerzeiten leichter geworden, im Gegenteil. Selbst aus SPD-feindlichen Darstellungen, zeitgenössischen wie späteren, wird mitreißend deutlich, welchen Einfluss auf die Geschehnisse das Zentralorgan und auch die vielen anderen SPD-Zeitungen in Stadt und Land einmal besessen haben.
Das ist in jeder Hinsicht Vergangenheit, und Teile derselben wünscht man sich keineswegs zurück. Es gab Tage, da das Verlagsgebäude in der Berliner Lindenstraße von bewaffneten Matrosen geentert, dann zwei Mal von den feindlichen Brüdern des Spartakusbundes erstürmt und besetzt und schließlich mit Waffengewalt (und fragwürdigen Mitstreitern) zurückerobert wurde. Wochen, in denen die schon lange bröselnde Einheit der deutschen Arbeiterbewegung zerbrach; in denen aus Untertanen des Kaisers Staatsbürger einer Republik, gleichzeitig aus Genossen aber Feinde wurden. Das alles bis zu drei Mal täglich kommentiert, angefeuert und mitgestaltet vom Zentralorgan der SPD.
Die Kehrseite seiner unmittelbaren Bedeutung war, dass der Vorwärts schon vor dem 1. Weltkrieg auch innerparteilich zum Zankapfel werden musste und gleichzeitig einzelne Mitarbeiter zu Akteuren in bitteren Richtungskämpfen. Kein Zweifel jedenfalls, die Einflussmöglichkeiten wie auch die Schwierigkeiten und die Risiken des Redakteursberufs waren einst höher. Ohne digitale Technik auszukommen, war noch das Wenigste für Menschen, die um so virtuoser mit Schere und Kleistertopf umgehen konnten und für die noch echte Setzer und Drucker das Technische erledigten. Doch morgens zur Arbeit zu gehen und damit rechnen zu müssen, das Verlagsgebäude besetzt oder zerschossen vorzufinden, selber womöglich im Gefängnis zu landen, war nichts für zart Besaitete und auch nichts für Zweifler.
Die Besetzung des Verlagsgebäudes 1919 blieb nicht die letzte. Es kam schlimmer. Im März 1933 waren es Hitlers Sturmtruppen, die die Vorwärts-Redaktion aus dem Gebäude trieben, und da war an ein Rückerobern nicht zu denken. Bald kam der Vorwärts nur noch als dünnblättrige, im Exil hergestellte Ausgabe nach Deutschland. Sie musste über Umwege in das Land der NS-Diktatur hineingebracht werden, und sie zu lesen war gefährlich. Erst 15 Jahre später, acht Jahre nach der völligen Einstellung, gab es wieder einen regulären Neuen Vorwärts. So hatte das Blatt im Exil geheißen und hieß auch die Wochenzeitung, mit der die SPD ab 1948 an die Tradition anzuknüpfen suchte. Ein hoffnungsvoller Neubeginn, doch Godesberg zog schon herauf, und wie die Partei, so musste auch das Zentralorgan auf die Paradigmenwechsel reagieren und sich verändern – unter der rollenden Rotation, sozusagen.
Die Frage, wie eine parteigebundene Zeitung sich Woche für Woche ihr sozialdemokratisches Herz fassen und für demokratischen Sozialismus streiten, dabei aber ihre geistige Unabhängigkeit wahren konnte, war eine spannende. Nur dass es die Verhältnisse leider nicht erlaubten, sie entspannt zu diskutieren. Denn schneller als das publizistische Renommee wuchs das Minus in der Kasse.
Das Ende war kein Ende
1989 schien das Ende des Blattes gekommen, wie schon 1940 oder 1878, nur aus anderen Gründen. Aber schon Friedrich Stampfer hatte in den Jahren des Prager Exils ein Buch mit dem trotzig-zuversichtlichen Titel geschrieben: Die ersten 14 Jahre der deutschen Republik. Damals schien die Demokratie in Deutschland vernichtet, aber ihre Auferstehung hat der legendäre Chefredakteur noch erlebt. Den Relaunch 1994 damit zu vergleichen, mag hoch gegriffen sein… Aber es gibt ihn noch oder wieder, nicht drei Mal täglich, doch ein Mal im Monat.
Machen also Männer und Frauen die Geschichte? Aber klar machen sie sie, nicht jede(r) einzeln, aber alle zusammen. Zum Beispiel, indem sie eine Zeitung herausbringen, die vorwärts heißt und strebt. Indem sie, nicht anders als August Bebel, manchmal granteln über die heutigen Verhältnisse und dann doch wieder die Kraft und die Zeit auf ihre Tätigkeit verwenden… seit 125 Jahren und bestimmt noch viel länger.