Von Eisenach bis Berlin

Den Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.“ Man kann sagen was man will: Sprachlich und auch von der Klarheit der Gedankenführung her waren sie von anderem Schrot und Korn als heute, die Parteiprogramme der sozialdemokratischen Gründerzeit.

Jener Satz steht im Erfurter Programm von 1891, und zwar im allgemeinen Teil. Den hatte der Marxismus-Theoretiker Karl Kautsky noch so ziemlich im revolutionären Sinne des Meisters formuliert. Weiter hinten folgten aber schon zahlreiche sehr konkrete Forderungen, vom allgemeinen gleichen Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechts bis zum Achtstundentag. Forderungen, „welche die Sozialdemokratie als unmittelbar zu verwirklichende an den jetzigen Staat stellt“ – so Kautsky ohne große Begeisterung in einer 1908 erschienenen Erläuterungs-Schrift. Da waren noch recht wenige jener Forderungen erfüllt, die SPD hatte den ersten Revisionismusstreit hinter und noch etliche Programmparteitage vor sich.

Erst revolutionär, dann reformistisch

Das in unseren Tagen gültige Berliner Programm von 1989 ist bei strenger Betrachtung das sechste, bei nicht ganz so strenger das siebente oder achte der deutschen Mehrheits-Sozialdemokratie (ohne Berücksichtigung der zeitweiligen oder endgültigen Abspaltungen, die sich natürlich auch Programme gaben). Allgemein wird das Eisenacher Programm des ADAV von 1869 schon mitgerechnet, auch wenn sich da die SPD noch gar nicht vereinigt hatte; es folgten Gotha 1875, Erfurt 1891, Görlitz 1921, Heidelberg 1925 und – ganz entscheidend – Godesberg 1959. Die Dürkheimer 16 Punkte des Parteivorstandes von 1949 waren speziell auf die Grundsätze parlamentarischer Arbeit bezogen und insofern ein Sonderfall.

Deutlich wird aus heutiger Sicht, dass das eingangs zitierte Erfurter Programm, mit seinen beiden so unterschiedlichen Teilen, den langen und beschwerlichen Weg der SPD von der revolutionären zur reformistischen staatstragenden Partei schon gebahnt… oder sagen wir: die Trasse jedenfalls frei gehalten hatte. Es sollte aber noch lange über Görlitz und Heidelberg hinaus so bleiben, dass „diese theoretischen Antithesen nie völlig überwunden“ wurden, in den Programmen „Marxsche und Lassalleanische Gedanken zumeist unvermittelt nebeneinander“ standen, wie es Hans-Jochen Vogel 1975 zusammengefasst hat. Erst die Godesberger Wende zur Volkspartei machte Schluss damit.

Erst Klassenfeind, dann gesellschaftlicher Akteur

Im 21. Jahrhundert stehen sich keine Klassenfeinde mehr gegenüber, sondern gesellschaftliche und wirtschaftliche „Akteure“, die miteinander die „Umorientierung von der Steigerung der Arbeitsproduktivität hin zur Steigerung der Ressourcenproduktivität“ wuppen müssen. So steht es überaus richtig im Bericht der Arbeitsgruppe Ökologie, Nachhaltige Entwicklung und Infrastruktur der Grundsatzprogrammkommission. Deren Aufgabe ist es seit drei Jahren, das Berliner Programm im Dialog mit der Basis fortzuschreiben. Also vorwärts damit… und nicht vergessen: Wann immer es zum Schwur kam, die Partei und ihre Führung vor epochalen Entscheidungen über Krieg oder Frieden, Legalität oder Emigration, Solidarität und Modernisierung stand, haben ihr die Formulierungen in den Programmen nicht viel geholfen.