Manchmal können einem Politiker schon leid tun. Da wurden jahrelang Horrorszenarien gepflegt, was passieren wird, wenn die Grenzen innerhalb Europas auch für Dienstleistungen geöffnet werden. Die EU-Verfassung scheiterte an polnischen Klempnern, die in Frankreich angeblich ihr Unwesen treiben. Allerorten wurde vor dem Ausverkauf europäischer Grundwerte, sprich sozialer Standards, gewarnt. Jetzt haben sich linke und rechte Politiker im europäischen Parlament zu einem Kompromiss zusammengerauft. Doch gedankt wird es ihnen von fast niemandem.
Nicht verwunderlich ist dabei, dass die konservativen Blätter dem nächste Woche im EU-Parlament zur Abstimmung stehenden Vorschlag nichts abgewinnen können. Eingeknickt seien die Konservativen, schimpft die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Sie haben sich mit den Sozialisten auf einen schlechten Kompromiss geeinigt, den sie ungeachtet dessen als wachstumsfördernd propagieren. Ihr Fazit: Wird dieser Kompromiss Gesetz, bleiben die EU-Dienstleistungsmärkte weitgehend abgeschottet.
Ein noch düstereres Bild malt das Handelsblatt. Die Protektionisten sind auf dem Vormarsch, angetrieben von einer oft diffusen Globalisierungsangst. Die ist mittlerweile so verbreitet, dass es keine rationale Debatte über die Vorzüge der Dienstleistungsrichtlinie gab. (…) Die Eu hat sich die Interpretationshoheit rauben lassen, von denen, die vor polnischen Klempnern und lettischen Metzgern warnen. Leider sind die positiven Argumente, die man für die radikalere Variante der Dienstleistungsrichtlinie anbringt, wenig überzeugend. Auch ohne Richtlinie würden heute schon, ganz legal, niedrige Löhne gezahlt, heißt es etwa. Nun, das wird den Beziehern dieser niedrigen Löhne die Aussicht auf noch billigere Konkurrenz kaum versüßen. Auch dass das Arbeits- oder Tarifrecht ohnehin nicht angetastet worden wären, stimmt nicht. Natürlich wären sie nicht direkt umgeschrieben worden, sehr wohl aber durch die Konkurrenz niedrigerer Standards unter Druck geraten.
Nach Ansicht der Kieler Nachrichten ist für die schärfere Variante, bei der das Herkunftslandprinzip gelten sollte, noch nicht aller Tage Abend. Unternehmen werden sich überlegen, ob sie ihren Standort nicht lieber ins Ausland verlegen sollen, wenn ihnen der Import billiger Arbeitnehmer verwehrt wird. So wird sich am Ende der Wettbewerb auch hier durchsetzten, hofft man im hohen Norden. Die Politik könne diesen Prozess verzögern, aber nicht aufhalten.
Zumindest ein bisschen erwärmen kann man sich für den Kompromiss in der Frankfurter Rundschau. Zwar ist man auch hier eher ernüchtert, was die Wirksamkeit des künftigen Gesetzes so es denn in der jetzigen Kompromissvariante umgesetzt würde angeht, andererseits hat man aber mindestens zwei positive Wirkungen ausgemacht: Zum einen verbindet sich in der Richtlinie die Öffnung der Märkte mit der Bedingung, vertraute soziale Standards zu bewahren. Zum zweiten provoziert sie eben jenen Dialog, den Kommission und EU-Ratspräsidentschaft beleben wollen. Die EU habe sich in einem zentralen Punkt für ihre Zukunft auf einen gemeinsamen Nenner geeinigt, was als Ausdruck des vielbeschworenen europäischen Sozialmodells gewertete werden könne.
Weit kritischer sieht das allerdings die Tageszeitung. Zwar jubelt sie in ihrer Aufmacherschlagzeile Attac hat fast gesiegt Sozialdumping ausgebremst. Doch was folgt ist eine durchaus skeptische Bestandsaufnahme. Die jetzige Fassung der Dienstleitungsrichtlinie schaffe wenig Klarheit und werde in vielen Fällen vor Gericht enden, so die Kommentatorin. Davon, dass sie das europäische Sozialmodell sichere, davon könne gar keine Rede sein, denn dieses Sozialmodell gebe es überhaupt nicht. Vielmehr werde es weiterhin ein Nebeneinander sehr unterschiedlicher sozialer Standards in der EU geben. Antwort der Linken auf die neoliberale Forderung nach der unbegrenzten Öffnung der Märkte hätte deswegen sein müssen, EU-weite soziale Mindeststandards zu verlangen. Stattdessen hätten sich die stark geschützten Staaten in ihr Schrebergärtchen zurückgezogen und bauten nun den Zaun höher. In den neuen Mitgliedsstaaten freue man sich dagegen auf die künftigen Marktchancen.
Doch auch dieser scheinbare Ausweg hat zweifelsohne seine Tücken. So ist es doch schlicht nicht vorstellbar, dass sich Deutschland und Polen auf gemeinsame Mindeststandards auch in ihren eigenen Ländern einigen, die gleichzeitig für deutsche Gewerkschaften akzeptabel und für polnische Unternehmer bezahlbar wären. Der Kern des Problems wird in derselben Zeitung weiter hinten angesprochen. Nämlich, dass durch die EU-Osterweiterung sehr unterschiedliche Wirtschaftsregionen zusammengefasst wurden. So wäre eine Dienstleistungsrichtlinie samt Herkunftslandprinzip zwischen Deutschland und Belgien wohl kein Problem, zwischen Deutschland und seinen osteuropäischen Nachbarn ist sie das sehr wohl.
Letztlich wird Deutschland also nichts anderes übrig bleiben, als selbst Standards zu setzen, etwa durch Mindestlöhne, die dann auch für andere europäische Arbeitnehmer gelten. Erprobt wird dies schon lange im Baugewerbe – und funktioniert auch, wo Vorschriften nicht rechtswidrig umgangen werden.
Doch ob der nun geschlossene europäische Kompromiss wirklich umgesetzt wird, ist noch keineswegs sicher. Denn entscheiden muss am Ende der Ministerrat. Und der neigt eher der unentschärften Variante zu.
ZEIT online, 10.2.2006
04/2006