Stimmen und Stimmungen von der Parteibasis

100 Tage Große Koalition in Berlin: Was eigentlich politischer Ausnahmezustand ist, wird langsam normal. CDU und SPD teilen sich die Arbeit und haben erste Grausamkeiten zur Sanierung der Staatsfinanzen auf den Weg gebracht: Rente erst ab 67 und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. So mancher hat allerdings den Eindruck, dass die „Schwarzen“ davon in der öffentlichen Gunst mehr profitieren als die „Roten“. Wie wirkt sich die Große Koalition an der Basis der Parteivölker im Kreis Paderborn aus?

„Unsere Mitglieder sind außerordentlich zufrieden mit Bundeskanzlerin Angela Merkel“, sagt Hanswalther Lüttgens, Kreisgeschäftsführer der CDU. „Das sagen sogar viele, die vorher noch so ihre Zweifel an den Qualitäten von Frau Merkel hatten.“ Mal abgesehen davon, dass es allen politisch Aktiven im Kreisverband nunmehr durch die doppelte Regierungsbeteiligung in Berlin und Düsseldorf „viel mehr Spaß“ mache, „nicht mehr nur für den Papierkorb“ zu arbeiten. Lüttgens beschreibt die Haltung vieler Mitglieder zur Großen Koaltion mit bisher „positiv abwartend“. Bis Weihnachten habe es nach den beiden Wahlkämpfen im letzten Jahr so etwas wie eine politische Ruhepause gegeben, jetzt habe der aktive Meinungsbildungsprozess seit den Neujahrsempfängen wieder eingesetzt. Ein- und Austritte bewegten sich zuletzt auf einem normalen Niveau. Als „Merkel-Effekt“ betrachtet Lüttgens allerdings die Tatsache, dass der Anteil derjenigen Eintrittswilligen, die von sich aus eine Mitgliedschaft anstreben und nicht geworben wurden, deutlich gestiegen sei.

„Klar ist immer noch: Die Koalition war für uns keine Liebeshochzeit“, beschreibt SPD-Kreisgeschäftsführer Johannes Emmerich die Gefühlswelt der Sozialdemokraten. Die Mitglieder verhielten sich wie „kritische Begleiter“. Das Bild in der Öffentlichkeit, die SPD habe womöglich die unpopuläreren Ministerposten abbekommen, werde zwar intern gelegentlich geteilt, diene aber mehr der „eigenen Frustbewältigung“.

Die Koaltion sie im übrigen zwar eine Sache der Parteispitze, die SPD-Abgeordnete in Berlin, Ute Berg, versuche trotzdem, ihren CDU-Konkurrenten Gerhard Wächter wo immer möglich anzugehen; auch auf Kreisebene und in den Räten mache man konsequent seine gegen die CDU gerichteten Positionen deutlich – keine Spur also von „Schmusekurs“. Dass sich die Arbeit der Großen Koalition aber so relativ harmonisch darstelle, habe er im Grunde auch so erwartet, so Emmerich.

Besonders auf den Themenfeldern Jugend, Bildung, Ausbildung, Familie und Gesundheit erwarteten die Mitglieder sozialdemokratische Akzente; die Hartz-IV-Reformen seien unter den Mitgliedern inzwischen mit der „Einsicht ins Machbare“ akzeptiert. Nach dem Mitgliederboom während der Wahlkämpfe des letzten Jahres herrscht nun in der Kartei der Liberalen im Kreis Paderborn wieder Normalzustand. Kreisvorsitzender Dr. Michael Hadaschik konstatiert vor allem durch die Regierungsbeteiligung in Düsseldorf, aber auch durch die neue, gewichtigere Oppositionsrolle in Berlin, mehr Interesse an der FDP.

Die Große Koalition habe immerhin bemerkenswert schnell die Rente ab 67 durchgesetzt, lobt der Chef der Kreis-Liberalen, gleichzeitig aber auch „die größte Steuererhöhung aller Zeiten“ (plus drei Prozentpunkte Mehrwertsteuer ab 1. Januar 2007). Hadaschik: „Ich würde der Koalition vor allem mehr Mut wünschen, was die Lösung der großen Probleme wie im Gesundheitssystem betrifft.“

„Die Koalition wird bestimmt noch von den großen Problemen eingeholt, deren Lösung sie bisher nur verschoben hat“, meint Horst Schulze-Stiehler, Kreisgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen. Als Reaktion auf die ungewohnte Oppositionsrolle in Berlin (und Düsseldorf) komme gerade eine neue Strategie-Diskussion auch im Kreis Paderbornin Gang. Prioritäten würden wohl in der Energiepolitik, bei Steuergerechtigkeit, Gesundheit und Sozialpolitik gesehen.

Aufwind verspürt mit der Großen Koalition das neue linke Lager: „Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und „Linkspartei“, die auf einer gemeinsamen Liste bei der Bundestagswahl 3,7 Prozent im Kreis Paderborn bekamen, registrieren laut Linkspartei-Sprecher Jürgen Sowoda nicht nur relativ zahlreiche Eintritte, sondern auch „viel positive Resonanz“. „Früher war nach Wahlen immer erstmal Schluss mit dem Interesse, jetzt geht das weiter“, berichtet Sowoda. Die Mitglieder sprächen von „spannenden Zeiten“, in denen Vieles offen sei. Inzwischen würden die beiden Gruppierungen tatsächlich schon vor der offiziellen Fusion im nächsten Jahr als eine Partei wahrgenommen.

Die meisten befragten Polit-Funktionäre glauben übrigens, dass die Koalition tatsächlich vier Jahre hält: „Vorgezogene Wahlen gibt es so schnell nicht schon wieder. Das wäre ja fast wie in Italien“, meint der bündnisgrüne Schulze-Stiehler und sieht sich in dieser Frage in einem Boot mit SPD-Mann Emmerich und FDP-Chef Hadaschik, der vor allem zwei mögliche Bruchstellen sieht: Die Gesundheitspolitik und ein mögliches, zu schlechtes Abschneiden der SPD bei den kommenden Landtagswahlkämpfen. CDU-Kreisgeschäftsführer Hanswalther Lüttgens mochte sich den drei anderen nicht unbedingt anschließen: „Wer weiß, nach einigen Jahren kommen vielleicht die Partei-Strategen zum Zuge, und das Ende der Koalition dient dann dem reinen Selbsterhaltungstrieb einer Partei.“

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Dokument erstellt am 03.03.2006 um 17:40:37 Uhr
Erscheinungsdatum 04.03.2006 | Ausgabe: PADERB | Seite: 01