Die Hoffnungen, die die Wähler in Schwarz-Rot gesetzt haben, waren hoch – vielleicht zu hoch. Denn inzwischen ist die Zusitmmung zur Arbeit der Regierung dramatisch eingebrochen. Vor allem in den letzten Monaten habe Deutschland einen beschleunigten Stimmungswandel erlebt, meint ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn. Besonders schwierig sind die Zeiten für die Union. Ihr nehmen die Wähler den parteiinternen Streit offenbar übel.
tagesschau.de: Zwar hat die Große Koalition mit dem gestern gefassten Gesundheitskompromiss ihre erste große Krise überstanden – aber das Vertrauen der Wähler schwindet. Schafft es Schwarz-Rot noch bis zur nächsten Wahl?
Jörg Schönenborn: Wenn man die Bürger fragt, ist die Antwort ein knappes "Ja". Es gibt immer noch eine Mehrheit, die glaubt, dass die Große Koalition bis 2009 durchhält. Diese Medaille hat aber eine Kehrseite – und die heißt ganz geringes Zutrauen. Bei fast allen wichtigen politischen Aufgaben ist die Mehrheit der Befragten der Ansicht, dass die Koalition nicht ans Ziel gelangen wird – etwa wenn es darum geht, die Arbeitslosigkeit deutlich zu senken, die Renten langfristig zu sichern oder das Gesundheitssystem zukunftsfähig zu machen. Insofern herrscht ein gewisses resignatives Anerkennen, dass es politisch keine Alternative zu dieser Koalition gibt, vor.
tagesschau.de: Stichwort Zutrauen: Kurz vor der Abwahl von Rot-Grün lag die Regierungszufriedenheit bei 25 Prozent, jetzt liegt sie bei einem Rekordtief von 19 Prozent. Wie ist ein so ein dramatischer Einbruch zu erklären?
Schönenborn: Wir erleben in den letzten Monaten seit der Bundestagswahl eine Beschleunigung des Stimmungswandels. Bei Rot-Grün hat es einfach länger gebraucht, bis sich die Enttäuschung, die es ja auch ganz massiv gab, aufgebaut hat. Unsere Wahlforscher erklären sich das damit, dass die Hoffnung, die an die Große Koalition geknüpft wurde, so groß war. Und damit, dass noch im Frühjahr Kanzlerin Angela Merkel und auch das schwarz-rote Bündnis so ungeheuer populär und mit so viel Vertrauen ausgestattet war. Das hat sich dann ganz schnell verflüchtigt – und genau dies ist das Kennzeichen dieses Sommers: Die Enttäuschung ist sehr schnell eingetreten.
tagesschau.de: Nun hat die Union aber einen historischen Tiefststand erreicht , die SPD liegt erstmals seit vier Jahren dagegen wieder vor der Union. Wie erklärt sich der Absturz der Union und der Zuwachs bei der SPD? Es regieren ja immerhin beide Parteien.
Schöneborn: Zunächst einmal vollzieht sich diese Trendwende offenbar ein bisschen Zug um Zug. Die SPD hat ja nun ihre Leidensphase hinter sich, und wenn man ehrlich ist, muss man feststellen: Es ist das erste Mal seit langer langer Zeit, dass die Sozialdemokraten in Umfragen substanziell gewinnen. Das ist viele Jahre nicht vorgekommen. Auf der anderen Seite steht es aus Sicht der Wähler um die Union im Moment einfach schlechter. Wenn es darum geht, wie attraktiv Parteien für den Wähler sind, ist die Geschlossenheit immer ein ganz wichtiges Kriterium. Der Wähler mag einfach keinen Streit. Und die Union gilt im Moment zwei Dritteln der Befragten unter allen Parteien im Bundestag als die zerstrittenste. Das Gegenstück dazu ist die FDP: Der attestieren zwei Drittel der Befragten Geschlossenheit. Im Moment herrscht die Wahrnehmung vor, dass die SPD besser geführt und politisch klarer ist.
tagesschau.de: Gleichwohl, Frau Merkel würden noch immer mehr Menschen wählen als SPD-Chef Kurt Beck. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären?
Schönenborn: Zum einen ist Frau Merkel Kanzlerin und es gibt nach wie vor viele Menschen – vor allem im Unionslager – die sie unabhängig von den Leistungen der Regierung unterstützen. Ihre Zustimmungswerte sind immer noch besser als die ihrer eigenen Regierung. Zum anderen ist Herr Beck nur ein virtueller Kandidat. Es stehen weder Wahlen an noch ist er offiziell zum Kanzlerkandidaten der SPD gekürt. Insofern können sich viele den SPD-Vorsitzenden im Moment nicht als Kanzler vorstellen.